Eine wahre Geschichte über die Bedeutung von genauen Hörprüfungen, kindliche Täuschungsmanöver und eine Kugelbahn.
David weicht lachend einem Schneeball aus, den seine Zwillingsschwester Sophia auf ihn geworfen hat. „Nicht getroffen!“, ruft ihr der aufgeweckte Blondschopf zu. Während die Zwillinge ausgelassen im Schnee spielen, erzählt ihre Mutter Judith, dass es eine Zeit gab, in der sie zweifelte, ob David jemals ein Wort sprechen würde. Denn der sechsjährige David ist gehörlos. Missverständnisse, Oberflächlichkeiten und kreative Kompensationsstrategien führten allerdings dazu, dass diese Diagnose erst spät gestellt wurde.
David und Sophia kamen in der 36. Schwangerschaftswoche in einem niederösterreichischen Landeskrankenhaus zur Welt. Davids Neugeborenen-Hörscreening war laut Mutter-Kind-Pass „auffällig“, daher ließen die Eltern das Gehör ihres kleinen Sohnes noch einmal kontrollieren, leider ohne Diagnosestellung.
David begann, zu lautieren und entwickelte mit seiner Zwillingsschwester eine eigene Form der Kommunikation. Nur manchmal keimten bei den Eltern Zweifel bezüglich Davids Hörvermögen auf. Er begann im Gegensatz zu Sophia nicht zu sprechen und hörte auch mit dem Lautieren auf. Der erste Geburtstag der Zwillinge war schon längst vorbei, als die besorgten Eltern den Kinderarzt um Rat fragten. „Buben sind meistens später dran“, beruhigte er sie – wieder ohne eingehende Untersuchungen. Und tatsächlich: in den unterschiedlichsten Alltagssituationen schien David zu beweisen, dass mit seinem Gehör wohl doch alles in Ordnung war. Er schlief nie ohne seine geliebte Spieluhr ein, aus der beruhigende Musik erklang. War meistens der erste an der Tür, wenn jemand läutete. Und reagierte genauso oft wie Sophia auf Zurufe der Eltern.
Kindliche Kompensationsstrategien
Als David nicht zu sprechen begann und auch sonst auf viele Geräusche nicht reagierte, wandte sich die Familie an einen weiteren HNO-Arzt. Dieser prüfte das Gehör eingehend und überwies den mittlerweile über 20 Monate alten Jungen mit Verdacht auf Innenohrschwerhörigkeit an die Universitätsklinik St. Pölten. Dort wurde eine objektive Hörmessung gemacht. „Als die BERA negativ war und uns der Arzt erklärte, dass David taub war, zog es uns fast den Boden unter den Füßen weg“, erinnert sich Vater Stefan an diese schwere Zeit. Keiner in der Verwandtschaft konnte glauben, dass David tatsächlich nie gehört hatte und seine Gehörlosigkeit so unglaublich gut ausgleichen konnte. Erst im Nachhinein wurde den Eltern klar, wie gut David schon in frühester Kindheit kompensierte. Er hatte seine Spieluhr nie gehört, sondern ihre Vibrationen gespürt. Er hatte auch die Türglocke nie gehört, sondern Sophias Reaktion auf das Läuten bemerkt und dann das rote Licht an der Kamera samt Besuchern vor der Tür gesehen.
Nun, da Davids Gehörlosigkeit schwarz auf weiß bestätigt war, galt es, nicht noch mehr Zeit zu verlieren. David sollte hören können und so wenig Sprachentwicklung wie möglich versäumen, wünschten sich seine Eltern. Der Primar an der HNO-Klinik St. Pölten, Prof. Dr. Georg Sprinzl beriet die Eltern eingehend, stellte ihnen Cochlea-Implantate als eine mögliche Lösung vor und nahm ihnen die Angst vor der damit verbundenen Operation. „Aufgrund der späten Diagnose blieb uns nur wenig Zeit zum Nachdenken. Zwischen Diagnose und Operation lag nur ein Monat. Wir hatten nicht einmal eine Hörgeräte-Phase. Wir haben in dieser Zeit nur funktioniert“, erinnert sich Stefan zurück. Nach der erforderlichen Meningokokken-Impfung erhielt David im November auf beiden Seiten in einer Operation seine Cochlea-Implantate.
Allein mit vielen Fragen
Die Zeit nach der Implantation empfanden die jungen Eltern als schwierig. Viele Fragen tauchten auf, als die Mutter mit dem frisch operierten Kleinkind nach Hause kam: „Was muss ich als nächstes tun? Worauf muss ich achtgeben? An welche Stellen kann ich mich wenden? Was sind die wichtigsten Entwicklungsschritte beim Hören?“ In dieser Anfangsphase fehlte Judith der Austausch mit anderen betroffenen Familien oder „Hörpaten“ wie Olga ,die ihr wahrscheinlich viel von ihren Bedenken und Ängsten genommen hätten. „Für Treffen in Selbsthilfegruppen muss man außer Haus, was mit zweijährigen Zwillingen nicht immer einfach ist. Zusätzlich zu den Sorgen, ob David mit dem Implantat wirklich hören würde, musste ich mich um Reha und Frühförderung kümmern. Das war zermürbend“, bedauert Judith, dass diesbezüglich in Österreich keine bundesweit einheitlichen Regelungen existieren.
Davids Erstanpassung erfolgte Anfang Dezember. Gespannt hofften die Eltern auf einen Hörerfolg, so wie sie es bei ihren Recherchen im Internet oft gesehen hatten. Doch David hatte mit 22 Monaten schon seine eigenen Vorstellungen – und einen starken Willen. Er akzeptierte die Audioprozessoren nicht und ließ sie nur widerwillig am Kopf. Die Tragedauer steigerte sich nur langsam, „praktisch im Minutentakt“, erzählt Judith.
„Wenn Kinder schon etwas älter sind, brauchen sie manchmal mehr Zeit, um die Audioprozessoren zu akzeptieren. Babys, die, wie heute üblich, mit etwa einem Jahr versorgt werden, empfinden sie als normal und lassen sie meistens wie selbstverständlich am Kopf“, weiß Prof. Dr. Sprinzl.
Die Kugelbahn
Zu Weihnachten überraschte das Christkind David mit einer Kugelbahn. Ein heiß ersehntes Geschenk! Früher hätte er die Kugel nur genau beobachtet, wie sie von oben nach unten rollte. Nun hörte er sie. Fasziniert lauschte er ihrem Klang, den unterschiedlichen Geräuschen, die die Kugel auf ihrem Weg machte. Immer und immer wieder ließ er sie nach unten rollen. Nichts war für David nun spannender als sein neues, klangreiches Spielzeug. Und zum ersten Mal akzeptierte er seine Audioprozessoren 15 Minuten am Stück. Die Kugelbahn hatte den Weg zum Hören geebnet.
Einen der emotionalsten Momente mit Davids Cochlea-Implantaten erlebte Judith kurz nach Weihnachten in der musikalischen Früherziehung, die sie mit den Zwillingen schon vor der Implantation regelmäßig besucht hatte, und bei der David keinerlei Reaktion auf Geräusche gezeigt hatte. Als Sophia und David nach längerer Pause wieder in die Stunde kamen und die Musik für die Kleinen ertönte, deutete David plötzlich auf seine Ohren. Er hatte zum ersten Mal auf die Musik reagiert! Für Mama Judith und die anderen Mütter, die Davids Geschichte kannten, war dies einer der bewegendsten Momente in der Anfangsphase seiner Hörreise.
Regelmäßiges Hörtraining und ein stationärer Reha-Aufenthalt am Cochlea-Implant-Center Hannover markierten den Wendepunkt für den kleinen Blondschopf. Einige Monate nach der Implantation hatte sich David endgültig mit seinen beiden Prozessoren angefreundet und legte sie nur mehr zum Schlafen ab. Mit der gesteigerten Tragedauer stellte sich bei dem Zweijährigen bald der heißersehnte Hör- und Sprecherfolg ein.
„Wenn Kinder ein Cochlea-Implantat bekommen, müssen sich Eltern bewusst sein, dass der Erfolg nicht von heute auf morgen kommt. Das Zauberwort heißt Geduld. Unser Tipp für betroffene Eltern: reden. Wir kommentieren alles, einfach alles. Jede Alltagshandlung, jeden Handgriff. Wir hinterlegen alles mit Worten“, erklären Judith und Stefan.
Der Erfolg gibt ihnen Recht. Nach vier Jahren des Hörens redet der Schulanfänger klar und deutlich. Die Kugel auf seiner geliebten Kugelbahn rollt weiter. Und David ist schon gespannt, welches Weihnachtsgeschenk er dieses Jahr hören wird.