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Ein ganz normaler Junge

Der elfjährige Nicolas aus Gauting bei München wurde taub geboren. Und er kann doch hören – über zwei sogenannte Cochleaimplantate. Für ihn ist das ganz normal, denn seine Eltern haben ihm die Implantate schon im Babyalter einsetzen lassen. Seit fast drei Jahren ist Nicolas Botschafter der Initiative Endlich Wieder Hören, die sich unter anderem für die Früherkennung von Hörproblemen bei Kindern stark macht. Am diesjährigen Welttag des Hörens am 3. März widmet sich auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dem Schwerpunktthema „Schwerhörigkeit bei Kindern“. Experten schätzen, dass weltweit 32 Millionen Kinder durch Schwerhörigkeit behindert sind und mahnen dringend zu frühem Handeln. Nur dann stehen die Chancen für eine Behandlung gut. Wie gut, sieht man am Beispiel von Nicolas.

„Ihr Sohn kann nicht hören.“ Als die junge Familie Seils im Jahr 2005 diese Diagnose bekommt, ist der kleine Nicolas noch nicht einmal ein Jahr alt. „Das war ein Schock für uns“, sagt seine Mama Florentine. Eine der beiden Großmütter hat sich damals sofort bei einem Gebärdenkurs angemeldet – für sie stand fest: Nicolas ist und bleibt taub. Doch seine Eltern haben sich damit nicht abgefunden: „Wir wollten ihn nicht in die Welt der Gehörlosen schicken. Denn dorthin hätten wir ihn nicht begleiten können.“ Über das Krankenhaus erfuhren sie von den Möglichkeiten eines Hörimplantats. So bekam Nicolas sein erstes Cochleaimplantat (CI) im Alter von nur 13 Monaten und konnte ohne größere Schwierigkeiten sprechen lernen. Mit ihrer Entscheidung zu einer Operation ermöglichten ihm seine Eltern eine ganz normale Entwicklung.
„Das war kein einfacher Schritt und natürlich haben wir uns Sorgen gemacht, ob das alles richtig ist“, erinnert sich Florentine Seils. „Aber heute wissen wir: Es war das Beste, was wir tun konnten.“ Nicolas ist ein fröhlicher Junge mit gesundem Selbstbewusstsein. Statt auf Star Wars steht er mehr auf Comedians – Hape Kerkelings „Horst Schlämmer“ hat es ihm angetan. Weil der die Leute hochnimmt und so eine tiefe Stimme hat. Eine Stimme, die Nicolas ohne Cochleaimplantate nie hätte hören können.

„Ich will klettern!“

Nicolas liebt den FC Bayern und würde eigentlich gerne selbst Fußball spielen. „Das wäre genau mein Ding, aber das ist schwierig wegen der CIs. Ich darf halt am Kopf keinen Ball abkriegen“, sagt er. Er ist ein guter Schüler, hat viele Freunde und tut alles das, was Elfjährige eben so tun – auf der Straße kicken, durch den Garten tollen, auf dem Fahrrad die Gegend erkunden und mit dem älteren Bruder raufen. Die Suche nach dem richtigen Sport ist durch die Prozessoren dennoch ein wenig eingeschränkt: „Fechten hab ich probiert, aber unter der Plastikmaske war es zu heiß für die CIs. Vor allem im Sommer. Ich habe auch fast ein Jahr lang Judo gemacht. Kurz vor der Gürtelprüfung habe ich dann aufgehört – da kamen die ganzen Würfe über die Schulter und es wurde mir zu brutal. Da hätte ich bestimmt die Prozessoren verloren.“
Nicolas achtet sehr gut auf seine CIs. Nicht nur, weil er ohne sie nichts hört, sondern auch weil er weiß, dass die hochentwickelte Technik viel Geld kostet. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen diese Kosten in der Regel – in Deutschland auch Nachfolgekosten wie zum Beispiel Batterien. Eine weitreichende Investition, die jungen Patienten wie Nicolas ein Leben in der Welt der Hörenden ermöglicht. Stolz zeigt er das Stück Hightech hinter den Ohren her. Die Abdeckung seiner CIs ist seit ein paar Wochen grün. „Hab ich mir extra so ausgesucht“, sagt er. „Das sieht cool aus und passt zu meiner Brille.“ Die Bügel seiner Lacoste Fassung sind ein Statement in knalligem Grün.
In den Osterferien wird Nicolas zum ersten Mal zum Bouldern gehen. Der Deutsche Alpenverein bietet in seiner Kletterhalle Kurse für Kinder an. Bis zu 13 Meter geht es dabei in die Höhe. „Wir schauen mal, ob das was für mich ist.“ Nicolas will hoch hinaus und gibt die Suche nach dem geeigneten Sport nicht auf.

Botschafter in der Schule

Seit September letzten Jahres besucht Nicolas die fünfte Klasse des Regelgymnasiums in seinem Wohnort Gauting. „Die Schulleiterin war fantastisch“, sagt Florentine Seils. „Die Hörbehinderung von Nicolas hat für sie keine Rolle gespielt. Sie meinte: ‚Du bist ja bisher auch zur Schule gegangen – also warum sollte das nicht klappen?’ Das ist natürlich ein großartiges Signal, das auch so an das Lehrerkollegium weitergegeben wird.“ Nicolas fährt jeden Tag mit dem Fahrrad zur Schule. Er geht gerne dort hin. „Die Lehrer achten darauf, dass die Klasse nicht zu laut ist. Denn dann ist es für mich schwierig, alles zu verstehen“, meint Nicolas. Wird er von anderen Kindern auf seine CIs angesprochen, dann erklärt er sie ihnen geduldig: „Ich sage dann, dass das meine Hörgeräte sind. Wenn ich die nicht hätte, könnte ich dich nicht hören.“
Nicolas spricht von „Hörgeräten“ obwohl seine Implantate viel mehr als das sind. Mit dem Begriff „CI“ können aber immer noch die wenigsten etwas anfangen. Um das zu ändern, hat Nicolas erst vor kurzem ein Referat im Fach „Naturwissenschaftliches Arbeiten“ gehalten. Das Thema: Hören mit Cochleaimplantat. „Ich habe der Klasse erklärt, wie das Ohr funktioniert. Und wie ein CI Impulse direkt an den Hörnerv weitergibt.“ Ein CI setzt da an, wo Hörgeräte nicht mehr helfen. Es umgeht die Bereiche des Innenohrs, die nicht mehr funktionieren, und stimuliert direkt den Hörnerv. Dabei besteht ein CI System aus zwei Teilen: dem Audioprozessor, der hinter dem Ohr getragen wird, und dem Implantat, das bei einem chirurgischen Eingriff unter der Haut platziert wird.
Nicolas’ Offenheit und die Bereitschaft, über seine Hörschädigung zu sprechen, tragen viel zur Aufklärung seines Umfelds bei. „In den Jahren, die wir uns nun schon mit dem Thema befassen, hat sich viel getan“, denkt Florentine Seils zurück. „Früher waren wir oft die ersten mit einem Kind mit Hörschädigung – im Hort, im Kindergarten, in der Schule. Mittlerweile sind die Menschen deutlich aufgeklärter und gehen endlich selbstverständlicher mit dem Thema Hörbeeinträchtigung um.“

„Tagsüber sehe und höre ich die Welt“

Zum Schlafen nimmt Nicolas die Prozessoren ab. Dann wird es still. Und wenn er nach dem Lesen das Licht ausschaltet, wird es auch noch dunkel. „Das ist manchmal ein bisschen gruselig. Ich höre nichts und sehe fast nichts“, sinniert er. „Dann bekomme ich gar nichts von der Welt mit. Nur das, was in mir passiert. Was ich mir gerade denke. Der Tag ist mir lieber – dann sehe und höre ich die Welt.“ Für Nicolas sind seine CIs das Tor zu einem selbstbestimmten Leben. Die WHO setzt sich dafür ein, dass alle Kinder weltweit dieselbe Chance haben wie Nicolas.
Seit 2009 hat jedes Neugeborene in Deutschland Anspruch auf ein Hörscreening – so können Hörminderungen schon bei Säuglingen erkannt und behandelt werden. Bei Nicolas wurde das Screening damals nicht durchgeführt. Seine Probleme wurden erst vier Monate später entdeckt – gerade noch rechtzeitig, um die richtigen Schritte einzuleiten. „Es braucht immer noch viel Aufklärung an allen Ecken und Enden“, fasst Florentine Seils zusammen. Sie rät Eltern, die in derselben Situation wie sie damals sind, sich zu informieren: „Klären Sie ab, ob ein Implantat bei ihrem Kind anatomisch möglich ist. Und dann machen Sie es. Wir haben den Schritt nie bereut.“

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