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Eine Trompetengeschichte

Die Entdeckung der Trompete, und der Musik im Allgemeinen, war für mich ein desorientierendes Erlebnis mit zerstörerischen Folgen.

Kindheit in Stille

Ich habe in der Grundschule sechs Jahre in einer mehr oder weniger ausgeprägten Stille oder Geräuschabwesenheit verbracht, nachdem ein Schularzt meine Schwerhörigkeit entdeckt hatte. Die Hörgeräte, die mir ‚angepasst‘ wurden, hatte ich strikt abgelehnt. Ein Psychologe guten Rufes wurde beauftragt, mich zu testen, und kam zur Schlussfolgerung, dass ich ein sehr intelligentes und begabtes Kind war, und infolgedessen die Regelschule anstelle der Logopädie empfahl.

Nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause regierte die Stille. Meine Eltern bezeichneten jegliches Geräusch als Lärm und weigerten sich sogar, das Radio etwas lauter zu stellen. Kontakte mit anderen Kindern gab es nicht. Man hatte mich gewarnt, nicht ‚davon‘ zu sprechen. Ich war ein artiges Kind und gehorchte. Ganz davon abgesehen, beschränkten sich die Gespräche zum Thema auf die Feststellung meiner Eltern, dass sie nichts getan hatten um ein solches Schicksal zu verdienen, und ich passte mich an, an dieses Bild der Mangelhaftigkeit und des Unglücks, als Leprakranker, der gezwungen war, in seinem Versteck zu leben.

Was Musik anbetrifft, beschränkte sich das in der Grundschule auf Gesangstunden, welchen ich natürlich nicht folgen konnte. Jedes Trimester die gleiche Prozedur: Man musste mit der Nase vor der Tafel stehen und singen. Man kann sich gut die Klasse hinter mir vorstellen, und das schallende Gelächter, das mein Auftritt auslöste. Ich kassierte meine ‚Null‘ ein und hatte Ruhe bis zum nächsten Trimester. Im dritten Grundschuljahr bekam ich dann einen Lehrer, der ein regelrechter Musik-Freak war. Er wusste um meine Situation Bescheid und zwang mich nicht zum Singen. Außerdem verbrachte er sehr viel Zeit damit, auf mich achtzugeben, damit ich alles mitbekam. Eines Tages schenkte er mir eine Blockflöte und versuchte, mir das Spielen beizubringen. Das Resultat war nicht besonders, da ich die hohen Töne nicht oder nur sehr schlecht hörte und ganz offensichtlich gar kein Gefühl für das Instrument hatte. Ich hasste diese Flöte, hatte aber nie ein anderes Instrument gehört, von den Orff-Xylophonen in der Schule abgesehen.

Die erste „richtige“ Musikstunde und ihre Folgen

Im ersten Jahr im Gymnasium änderte sich etwas. Wir hatten zwei Musikstunden in der Woche. Der Lehrer wusste, wie er sein Fach an die Schüler brachte. Im Musiksaal befand sich eine große Stereoanlage mit riesigen Lautsprechern. Gleich in der ersten Stunde taten wir gut daran, uns an den Bänken festzuhalten, wenn wir nicht wegfliegen wollten.

Ich habe diese erste ‚richtige‘ Musikstunde nie wieder vergessen. Der Lehrer hatte den Bolero ausgesucht. Das war für mich eine ganz tolle Sache, da sich darin der Reihe nach alle Instrumente präsentierten – Instrumente, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existierten. Ich konnte sie hören, nicht alle, und nicht alle besonders gut, aber ich hörte sie. Besonders die Posaune, von der ich am liebsten noch ein paar Wiederholungen gehabt hätte. Ich ging nach Hause und redete von nichts anderem mehr als dem Bolero. Zwei Monate lang sparte ich mein Taschengeld, um die Schallplatte zu kaufen (die ich übrigens immer noch habe). Ich hatte zwar keinen Plattenspieler, aber Hoffnung. Im Laufe der folgenden zwei Jahre kaufte ich praktisch alles, was der Musiklehrer uns vorstellte, und eines Tages forderte ich meine Eltern auf, mir eine Stereoanlage zu kaufen.

Ein hoher Stapel von Schallplatten

Diese Forderung schlug hohe Wellen. Eines Tages klingelte ich an der Tür meines Grundschullehrers (jener, der mir die Blockflöte geschenkt hatte) mit der Bitte, meine Eltern zu besuchen und sie zu bearbeiten, damit sie mir endlich erlaubten, meine Schallplatten und Radio zu hören. Er sagte zu, kam vorbei und verpasste meinen Eltern eine ordentliche Standpauke. Nur wenig später baute er in meinem Zimmer ein ganz tolles System auf, mit einem richtig fetten Verstärker und einem enorm lautstarken Kopfhörer. Danach packte er eine Kiste Schallplatten aus, so ungefähr hundert Stück, von denen er behauptete, er hätte sie entweder doppelt oder brauchte sie nicht mehr. Erst viele Jahre später habe ich seine wunderbare Lüge in all ihrer Schönheit verstanden.

Der Traum des Trompetespielens

Ich war 15, und klebte an meinem Plattenspieler. Die Klassenkameraden rauchten, soffen und gingen aus. Ich hörte Musik. In allen Richtungen, in allen Farben, Tag und Nacht. Eines Tages fiel das Wort ‚Maurice André‘, nach der Übertragung eines Trompeten-Orgel-Konzerts. Diese Klarheit! Brillanz! Dieses Licht! Ich war überwältigt. Ich erschauderte vor lauter Freude. Schallplatten mit Trompeten-Aufnahmen begannen sich aufzustapeln. Ich war ein Trompeten-Junkie geworden.

In der Schule lief alles gut, von Mathematik mal abgesehen, ein Fach für das ich weder ein Talent noch eine Affinität hatte. Die Isolation und Stille störten mich nicht all zu sehr. Ich hatte meine Bücher und Platten. Ich kannte ja nichts anderes. Aber ich hatte Zeit zum Nachdenken, und die Trompete ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Mit 16 Jahren sammelte ich all meinen Mut und bat meine Eltern, mich an der Musikschule einschreiben zu dürfen. Ich wollte Trompete spielen lernen. Ihre Reaktion war eine lange Liste von Argumenten, die dagegen sprachen – ich würde die obligatorischen Theoriekurse nicht schaffen, weil ich nicht singen konnte, das würde zu viel Zeit beanspruchen, die Schule ging vor, das Instrument wäre zu laut usw. Da ich immer noch so schlecht in Mathe war, fiel mir ein Handel ein. Ich würde meine Note von Ungenügend auf eine Eins bessern, wenn ich dann die Trompete bekäme. Am Ende des Trimesters kam ich dann auf 46/60 (eine gute Zwei), aber eine Eins wäre 50 gewesen. Die 46 war die beste Note, die ich in meiner ganzen Gymnasium-Laufbahn in Mathe hatte.
Ich war auf der Tertia, auf der naturwissenschaftlichen Sektion, und dieses Resultat zu erreichen, war nicht einfach gewesen. Aber 46 war nicht 50, und bei uns wurde nicht verhandelt.Trompetespielen trotz Schwerhörigkeit. Bild einer glänzenden Trompete, die auf einem Rasen liegt.

Zeit für Abschied

Zu Tode betrübt, verabschiedete ich mich von der Trompete, und somit von einem weiteren langgehegten Traum. Ich schwor mir, dass ich niemals zu diesem zu Hause zurückkehren würde, wenn ich es erst einmal verlassen hätte, außer für gelegentliche kurze Besuche. Ich habe dieses Versprechen gehalten. Ich hatte zwar nicht alles verstanden, aber mitbekommen, dass man mich oder die Person, die ich war, in diesem Haus nicht haben wollte. Ich sprach nicht mehr von dem, was mir Freude machte oder Sorgen bereitete, denn es war ohnehin unwichtig. Drei Jahre später waren die Koffer gepackt.

Ahnungslos bin ich auf meinem Campus in England gelandet. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, welche Schwierigkeiten mich dort erwarteten. Vom ersten Tag an war ich in den großen Hörsälen sowie in anderen Situationen restlos überfordert. Ich hatte aber einen Mentor, wie das in England so üblich ist, und traf gleich in der ersten Woche eine Person, die später mein bester Freund wurde. Die beiden taten sich zusammen und organisierten praktische Hilfe. Ich bekam Abschriften, Kopien, Kassetten. Man brachte mir bei, das Problem anzusprechen, und mitzuteilen, wie man am besten mit mir kommunizierte. Diese Taktik war ein voller Erfolg. Ich hatte einen Haufen Freunde und fing an, zu Konzerten und Vorstellungen zu gehen. Bei jeder Party, bei jedem Scheunentanz, jeder Disco – ich war dabei. Alles, was mir von Geld übrig blieb, investierte ich in Konzerttickets und Tonträger.

Ich hatte das Glück, von ganz wunderbaren Lehrern geleitet zu werden und genoss die intensive Zusammenarbeit. Es störte niemanden, dass ich anders war. Im Gegenteil, man fand das interessant, und die Hilfe sowie alle Komplimente während dieser Zeit brachten mich dazu, wie eine Besessene zu arbeiten. Ich wollte auf keinen Fall meine Lehrer und meine Freunde enttäuschen, und kassierte schlussendlich ein Diplom mit einem sehr guten Notendurchschnitt.

Gelegentlich wurde ich von der Erinnerung an die Trompete heimgesucht. Manchmal trollte ich mich verstohlen durch ein Musikgeschäft. Ich hätte viel darum gegeben, auch nur einmal eine Trompete anzufassen, in den Händen zu halten, und sei es nur für einige Minuten, wagte es aber nicht, einen Verkäufer zu fragen. Eine Studentin, die eine Trompete anfassen will, und die nicht mal Noten lesen kann, ein böser Scherz! Eines Tages erzählte ich einer Freundin von meinem Traum. Sie spielte Gitarre, und bot mir an, mir ein paar Griffe beizubringen. Leider passt eine Trompeten-Seele sehr schlecht zum Ton einer Gitarre, und nach ein paar Monaten gab ich auf.

Rückkehr

Der Tag der Rückkehr nach Luxemburg kam näher. Ich versuchte alles, um nicht zurückkehren zu müssen. Ich bettelte um Verlängerung der Studienzeit, mit der Hoffnung im Ausland bleiben zu können und ein Leben zu führen, das meinem Wesen entsprach, an einem Platz, wo ich mich wohlfühlte. Meine Eltern waren nicht einverstanden, und ich war gezwungen, mein Studium zu beenden. Ich wusste, dass ich in der Welt der Tabus und der Stille untergehen würde. Ich wusste auch, dass es mit der Freiheit vorbei war, aber ich konnte nichts dagegen unternehmen. Sehr schnell habe ich mich im Kessel der Vorurteile und der Intoleranz wiedergefunden.

Ich war zwar qualifiziert, technisch gesehen, aber man fand nicht, dass ich damit auch die Rechte hatte, die andere mit dem gleichen Diplom hatten. Die Trompete hatte ich immer noch nicht vergessen, aber die Arbeit war hart, ich zog ständig um und hatte keinerlei Unterstützung. Das Thema schien definitiv abgeschlossen.

Als ich geheiratet habe, habe ich wieder an die Trompete gedacht. Da gab es eine Analogie: Man sucht, man denkt nach, und eines Tages stellt man fest, dass man zusammenpasst. Man muss nicht mehr nachdenken. Aber mit der Trompete war das anders- ich hatte sie gefunden, aber konnte sie nicht haben, man hatte sie mir weggenommen. Ein Gefühl der Leere war geblieben. Ich erzählte dann irgendwann die Geschichte und wir kamen zur Schlussfolgerung, dass ich ja jetzt immer noch einen Versuch machen könnte. Später geht ja auch. Aus ‚später‘ wurden dann die Zwillinge und so ich hatte anderes zu tun, als Trompete zu spielen. Ich habe den Gedanken dann definitiv aufgegeben.

„Nur das nicht.“

Bis an dem verwunschenen Tag, an dem mein Sohn vom Kindergarten zurückkehrte und mir erklärte: „Ich will Trompete spielen lernen.“ Ich war ganz verstört und dachte ‚Nur das nicht. Spiel Orgel, Didgeridoo, Kontrabass, irgendwas, aber nicht Trompete. Mach Bungee-Jumping, Paragliding oder eine Everest-Expedition, aber nur nicht Trompete.‘

Er hat seinen Wunsch einem talentierten und enthusiastischen Hobby-Trompeter wiederholt. Der kam dann auch sofort vorbei und gab eine Vorstellung. Da habe ich auch ihm diese schreckliche Geschichte erzählt, worauf hin er meinte, ich könnte ja dann mit Sohnemann anfangen. Letzterer hörte nicht auf, von Trompete zu reden und entführte all meine Aufnahmen.

So kam es dann, dass ich ihn eingeschrieben habe. Ich sagte mir, dass ich das annehmen musste, aber ich empfand es als bedrückend. An dem Tag, an welchem das erste Treffen mit dem zukünftigen Lehrer angesagt war, suchte ich noch nach einer Möglichkeit, nicht hingehen zu müssen. Ich hatte Angst davor, dass diese Geschichte wieder an die Oberfläche gelangen würde, nachdem mich bemüht hatte, sie endlich zu begraben. Aber dann nahm das Ganze eine unerwartete Wende.CI-Trägerin Laurence und zwei weitere Blasmusiker beim gemeinsamen MusizierenBildnachweis: Laurence Gretsch

Als ich mich gegenüber dem Lehrer befand, hörte ich mich zu meiner eigenen Überraschung sagen: „Ich will das auch einmal probieren.“ Gleichzeitig war ich über meinen Wagemut ganz entsetzt. Ich habe es dann versucht, und fand mich in der Zeit zurückversetzt in den Augenblick, als ich 30 Jahre früher zum ersten Mal Maurice André hörte. Und da wusste ich: Diese Trompete, das war ich. Ein Ich ohne Trompete konnte es nicht geben.

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